Dr. Ruth Bieringer, Vice President Material Technology bei Technology & Innovation (T & I) von Freudenberg Sealing Technologies (FST), nimmt Stellung zu einer Vielzahl von Themen rund ums Thema Werkstoffe.

„Wir haben aktuell die Riesenchance, unser Portfolio und damit das gesamte Unternehmen breiter aufzustellen. Unsere Aufgaben und unser Kundenkreis erweitern sich, das Materialspektrum wird vielfältiger. Wir beschäftigen uns mit äußerst spannenden Aufgaben und neuen Produkten für neue Märkte. Das stellt uns vor neue Herausforderungen.“
Die Aufgabenverteilung: T & I und die Divisionen
„Bei T & I kümmern wir uns vor allem um die Vorausentwicklung. Dabei geht es entweder um ganz neue Themenfelder, auf denen FST bisher noch gar nicht tätig ist. Oder wir beschäftigen uns mit Themen, die mehr als eine Division betreffen beziehungsweise die von übergeordnetem Interesse sind. Die Divisionen betreiben dagegen vorwiegend inkrementelle Entwicklungsarbeit, das heißt die stetige und schrittweise Verbesserung von bestehenden Produkten, Leistungen oder Prozessen; auch hier unterstützen wir bei Bedarf.
Entscheidend für die Zukunft ist eine gut vernetzte Zusammenarbeit zwischen T & I und den Divisionen. Zum einen, um Redundanzen zu vermeiden. Zum anderen, um Themen richtig zu priorisieren. Wir müssen sicherstellen, dass wir alle bei FST an den richtigen Inhalten arbeiten, dass wir uns genau den Themen widmen, die für uns und unsere Kunden wirklich relevant sind. In der aktuellen Strategieperiode wollen wir diese vernetzte Zusammenarbeit zwischen der Materialentwicklung von T & I und den Divisionen noch klarer strukturieren.“
Herausforderungen in der Werkstoffentwicklung
„Wir haben derzeit ganz neue Themen zu bewältigen, in Anwendungen, Märkten und mit Kunden, die wir bisher gar nicht kennen. Wir starten Entwicklungsprojekte, bei denen wir zu Beginn weder wissen, welches Material wir verwenden werden, noch wie sich der Verarbeitungsprozess gestalten wird, noch wie das Bauteil am Ende genau aussehen wird. Inhaltlich geht es dabei vor allem um die Energietransformation, um Batterie, Brennstoffzelle, Elektrolyse, die Wasserstoffwirtschaft, um E-Mobility, Windkraft und Solar – das sind die großen Treiber aktueller Entwicklungen.
Diese neuen Themen sind deutlich umfassender und herausfordernder als es in der Vergangenheit beispielsweise die Entwicklung einer nächsten Simmerring-Generation war – das haben die Spezialistinnen und Spezialisten in der Division sehr gut alleine ohne große Unterstützung von T & I geschafft. Aber bei diesen neuen Themen hilft uns eine dezentrale Herangehensweise wenig weiter. Wir brauchen für diese neuen Anwendungen in den für uns neuen Themenfeldern zentral gesetzte Leitplanken, damit alle in die richtige Richtung laufen. Wir müssen die Komplexität in der Firma reduzieren. Das erfordert, neu zu denken! Das wird ein fließender Prozess in kleinen Schritten, keine Revolution.
Es werden Materialeigenschaften wichtig, die wir bei FST bisher nicht im Fokus hatten. Werkstoffe müssen elektrisch leitfähig sein. Oder thermisch isolierend. Oder thermisch leitfähig. Oder thermisch leitfähig, aber elektrisch isolierend. Oder elektromagnetisch abschirmend. Bei FST kommen wir klassisch vom Gummi, von der Gummi-Metall-Bindung. Nun befassen wir uns zunehmend mit Thermoplasten sowie mit anderen Materialkombinationen wie Gummi-Thermoplast-Verbunden. Damit einher gehen andere Verarbeitungswege beziehungsweise andere Prozesse, wie wir Materialien generieren, weiterverarbeiten und daraus Produkte herstellen. Kurzum: Das Materialportfolio und die Materialeigenschaften, um die wir uns kümmern, werden deutlich vielfältiger. Diese Kombination aus grundlegend Neuem und enormer Vielfalt stellt eine große Herausforderung dar.“
Ein Lösungsweg: Inkubatoren
„FST hat nach einer gründlichen Priorisierung auf der Basis von Marktstudien zu vielversprechenden Entwicklungsthemen Inkubator-Teams gegründet. Warum? Zum einen wollen wir bei T & I nicht irgendetwas im Elfenbeinturm entwickeln und es dann an die Divisionen weitergeben. Zum anderen kann sich umgekehrt bei diesen radikalen Neuentwicklungen in neuen Anwendungsgebieten, wie wir sie aktuell vorantreiben, keine Division mehr allein den Hut aufsetzen. Solche grundlegenden Neuentwicklungen müssen zentral gemanagt werden, mit einer ordentlichen Struktur und einem ordentlichen Projektmanagement, einer ordentlichen Dokumentation und einem ordentlichen Stage-Gate-Prozess dahinter. In die Inkubator-Teams sind alle Fachleute – von T & I, aus den Divisionen, aus dem Vertrieb – eingebunden.“
Ein Trend: Kunststoff statt Metall
„Seit vielen Jahren gibt es den Trend weg vom Metall hin zum Kunststoff: um Gewicht zu sparen und weil Kunststoffteile mehr Designfreiheit bieten. Dieser Trend wird in den neuen Anwendungen und Technologien verstärkt. Vor diesem Hintergrund beginnen wir, Kunststoffmaterialien selbst herzustellen, also für Kundenanwendungen maßzuschneidern und nicht nur zuzukaufen. Denn teilweise finden wir für neue Anwendungen keinen passenden Kunststoff am Markt. Also müssen wir das selber machen. In meinem Team gibt es deshalb eine Kunststoffgruppe, die wir ausbauen wollen.“
Ein Muss: Mehr Tempo in der Werkstoffentwicklung
„Die Zeitfenster, die sich FST in den neuen Märkten öffnen, sind limitiert. Wir müssen schnell sein! Es geht in der Entwicklungsarbeit verstärkt um Tempo und Effizienz. Deshalb werden wir uns in der Materialentwicklung noch intensiver mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen. Wie können wir vorhandenes Wissen noch besser nutzen? Wie können wir Daten und Leute intelligent vernetzen? Methoden wie Artificial Intelligence und Machine Learning können uns dabei helfen, Entwicklungszyklen zu verkürzen.
Wir brauchen beispielsweise schlauere Prüfungen, um in weniger Versuchen in kürzerer Zeit zu lernen, was einen Werkstoff charakterisiert. Im Idealfall können wir mit Hilfe großer Datenmengen aus vorhandenem Wissen die Eigenschaften von Rezepturen vorhersagen. Wenn uns der Computer anhand der Anforderungen und Parameter, die wir eingeben, schon ein paar Beispielmischungen als Startpunkt für unsere Entwicklung ausspuckt, gewinnen wir enorm an Tempo.
Computersimulationen, wie wir sie in der Produkt- oder Prozessentwicklung nutzen, zum Beispiel zum Simulieren des Fließverhaltens eines Materials in die Werkzeugkavität, stehen uns bei der Auswahl des bestmöglichen Werkstoffs aktuell leider noch nicht zur Verfügung. Auch dies ist eines der großen Zukunftsthemen. Wir können dank unserer Kollegen in der zentralen Forschung (FTI) bereits auf Simulationen zurückgreifen, die die Lebensdauer eines Werkstoffs in einer konkreten Anwendung prognostizieren. Insgesamt geht es sowohl beim Thema Digitalisierung als auch beim Themen Simulation darum, zeitraubende Entwicklungsschleifen, die mit viel Laborarbeit verbunden sind, zu reduzieren.“
Zwei Standards: Die Entwicklungsprozesse TIP und PDP
„Um für die neuen Themen von Elektromobilität bis Wasserstoffwirtschaft innovative Lösungen effizient zu entwickeln, brauchen wir klar definierte, global standardisierte Prozesse. Aufgrund des übergreifenden Charakters der neuen Fragestellungen, ist hier ein zentral gelenktes Vorgehen erfolgversprechender als ein dezentrales.
T & I hat zusammen mit den Divisionen zwei strukturierte Prozessstandards entwickelt, mit denen FST Produktentwicklung betreibt. Beides sind Stage-Gate-Prozesse. Das heißt: Der gesamte Entwicklungsprozess ist in Abschnitte unterteilt. Nach jedem Abschnitt erfolgt eine Projektbewertung und wird entschieden, ob das Projekt abgebrochen oder fortgeführt wird.
Einer der beiden FST-Prozessstandards ist der eher inkrementelle Product Development Process, kurz PDP. Er beinhaltet vor allem die Weiterentwicklung von bestehenden Produkten oder Entwicklungen in Themenfeldern, in denen sich FST schon sehr gut auskennt. Der PDP läuft vor allem in den Divisionen.
Neu aufgesetzt haben wir in den vergangenen Jahren den Technology Innovation Process, kurz TIP. Mit dem TIP kümmern wir uns bei T & I um die großen neuen Themen, bei denen wir zu Beginn oft gar nicht wissen, wie wir sie anpacken müssen. Der TIP setzt viel früher an als der PDP: Wir müssen erst herausarbeiten, wo unsere Entwicklungsarbeit beginnt, wo wir ansetzen. Die Gesamtverantwortung innerhalb von T & I liegt in solchen Fällen oft bei der Produktvorausentwicklung. Die Materialentwicklung ist dann – wie auch die Prozessentwicklung – quasi deren Zulieferer. Der Vorausentwicklungsprozess TIP geht ab einer gewissen Reife dann in den normalen Produktentwicklungsprozess PDP über. Damit einher geht oft auch eine Übergabe der Thematik in eine Division, wo die Innovation dann ihren Heimathafen findet.
Grundsätzlich versuchen wir auch bei Vorausentwicklungen, denen zu Beginn kein konkreter Kundenwunsch zugrunde liegt, frühzeitig ein bis zwei Lead-Kunden mit an Bord zu bekommen. So erhalten wir sofort ein Kundenfeedback und so erfahren wir, ob wir in der richtigen Richtung unterwegs sind.“
Stichwort: Rohstoffmangel
„Nach den großen Engpässen in der jüngeren Vergangenheit hat sich die Lage auf den Rohstoffmärkten wieder etwas entspannt. Trotzdem wollen wir die Abhängigkeit von einzelnen Ländern oder Lieferanten reduzieren. Während bei der Materialentwicklung angesichts der großen Herausforderungen und übergreifenden Themenstellungen das Pendel bei FST eher in Richtung Zentralisierung schlägt, entwickelt sich der Rohstoffeinkauf unter der Maxime ,local for local‘ tendenziell in Richtung Lieferkettenverkürzung. Damit beschäftigen sich aktuell die Kolleginnen und Kollegen im Einkauf beziehungsweise Supply Chain Management.“
Stichwort: Rohstoffmanagement
„Wir verwenden bei FST ein sehr großes Portfolio an Rohstoffen – mit einem entsprechend großen Verwaltungsaufwand. Wir beschäftigen uns daher mit der Frage, wie wir unsere Rohstoffe stärker standardisieren können. Wir wollen verhindern, dass das Rohstoffportfolio ausufert und sich dessen Handhabung zu komplex gestaltet. Komplexität reduzieren, indem wir die Vielfalt an Mischungen reduzieren – so lautet die Losung. Dazu besteht in dieser Strategieperiode Handlungsbedarf.
Außerdem steht das Thema Dual Sourcing/Rohstoffqualifikation auf unserer Agenda: Wie können wir uns flexibler aufstellen für künftige Krisen, Lieferengpässe oder Preiserhöhungen eines Lieferanten? Wie schaffen wir mehr Flexibilität in der Auswahl der Rohstoffe? Können wir, wenn einer knapp oder extrem teuer wird, auch mal einen anderen Rohstoff verwenden? Wir wollen uns in diesem Punkt robuster und flexibler aufstellen.“
Stichwort: PFAS
„Die Europäische Union plant, den Einsatz von Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS), zu denen unter anderem die Fluorpolymere FKM und PTFE zählen, zu beschränken beziehungsweise zu verbieten.
Das Thema wird eine Riesenbaustelle in den nächsten Jahren, das wir zentral gut steuern müssen. Einen signifikanten Anteil unseres Umsatzes machen wir mit Produkten, die Fluorpolymere, die zu den PFAS zählen, enthalten.
Das Thema hat für FST mehrere Dimensionen. Schlimmstenfalls wird die Verwendung der Stoffgruppe beschränkt. Das wäre disruptiv, eine riesige Herausforderung. Dann müssten wir Lösungen finden, sie zu ersetzen. Ob es wirklich irgendwann soweit kommt, ist offen. PTFE als solches ist zum Beispiel nicht giftig. Es wird als Pfannenbeschichtung beim Kochen und sogar in der Implantologie im menschlichen Körper verwendet.
Das aktuell viel drängendere Problem ist in meinen Augen, dass unsere PTFE- oder FKM-Lieferanten schon kurzfristig ihre Produktion ohne umweltschädliche Emissionen fluorhaltiger Chemikalien gestalten müssen. Alle unsere Lieferanten arbeiten derzeit daran, ihre Prozesse dementsprechend umzustellen. Infolge dessen verändern sie Materialtypen. Sie liefern uns künftig nicht mehr exakt Dasselbe, was wir heute bekommen. Dies kann weitreichende Auswirkungen auf unsere Prozesse, Rezepte, Endprodukte und deren Performance haben.
Für uns bedeuten diese Veränderungen bei unseren Rohstofflieferanten einen Riesenaufwand. Wir müssen das gesamte Portfolio durchleuchten, das davon betroffen ist. Darüber hinaus stellen wir fest, dass unsere Lieferanten ihre Portfolien nicht nur hinsichtlich der Werkstoffeigenschaften verändern, sondern gleichzeitig auch verschlanken. Manche Typen fallen ersatzlos weg. Angesichts dessen werden wir Rezepte anpassen müssen.
Ein Beispiel, das die Tragweite dieser kurzfristig zu erwartenden Veränderungen verdeutlicht: Eine Polymertype eines einzigen Herstellers geht an vier FST-Standorte, an denen wir Mischungen herstellen. Wir machen daraus 34 verschiedene Mischungen. Diese Mischungen gehen an 17 Produktionsstandorte von FST in aller Welt zur Fertigung. Dahinter stehen 87 Kunden, die 290 Artikel kaufen, in Stückzahlen von 90 Millionen Stück pro Jahr. Wir haben nicht nur einen, sondern mehrere Lieferanten und beziehen von denen jeweils nicht nur eine, sondern viele Polymertypen, bei denen sich die Situation jeweils ähnlich darstellt. Wir müssen für jede dieser Typen die Rezepte überprüfen! Manchmal müssen wir das Rezept ändern, manchmal den Prozess. Im Anschluss müssen wir mit den Kunden reden und ihnen die Änderung anzeigen. Die Kunden müssen das dann freigeben. Das bindet Ressourcen.
Wir werden uns womöglich auch Gedanken darüber machen müssen, was am Lebensende mit dem Abfall einer mit Fluorpolymeren hergestellten Dichtung geschieht. Wie lassen sich unsere Produkte emissionsfrei entsorgen? Kurz: Der Themenkomplex PFAS beschäftigt die ganze Organisation von der Entwicklung bis zum Verkauf – selbst dann, wenn wir die Fluorpolymere weiterverwenden dürfen.“
Stichwort: Nachhaltigkeit
„Nachhaltigkeit ist bislang nicht das entscheidende Kriterium, warum sich Kunden für unsere Dichtungen entscheiden. Heute werden unsere Produkte vor allem gekauft, weil sie eine gute Performance bieten und einen zu der Performance passenden Preis. Aber immer mehr Kunden fragen nach dem CO2-Fußabdruck unserer Dichtungen. Neben Preis und Performance wird Nachhaltigkeit künftig ein drittes Verkaufskriterium sein.
Eines unserer internen Projekte zielt darauf, unser Rohstoff-Portfolio nachhaltiger zu gestalten. Es geht dabei unter anderem darum, unsere Rohstoffe in puncto Nachhaltigkeit zu bewerten. Wir haben diese Werte bereits in unsere Rezeptdatenbanken implementiert, haben bestimmten Rohstoffgruppen Daten zugewiesen, die wir aus externen Datenbanken gezogen haben. Uns liegen aber bisher keine lieferantenspezifischen Daten vor. Künftig werden wir auch von unseren Lieferanten wissen wollen, welchen Kohlendioxid-Rucksack ein Rohstoff trägt. Wir kümmern uns außerdem um Materialien mit geringem Footprint aus nachwachsenden Rohstoffen oder aus Recycling-Kreisläufen.
Die Nachhaltigkeit einer Dichtung hängt aber nicht nur vom Material ab, sondern auch maßgeblich von der Energie, die wir im Herstellprozess benötigen. In der Effizienz dieser Prozesse liegt meines Erachtens der größere Hebel in Richtung Nachhaltigkeit. Auch Abfallvermeidung spielt eine wichtige Rolle.“

Dr. Ruth Bieringer …
… leitet seit 2020 im Bereich Technology & Innovation von Freudenberg Sealing Technologies (FST) als Vice President die Materialtechnologie. Die promovierte Polymerchemikerin trägt damit global Verantwortung für die Werkstoffentwicklung und -vorausentwicklung bei FST. Außerdem ist sie für Compliance, also die Einhaltung von Regularien und gesetzlichen Bestimmungen wie der Chemikalienverordnung REACH der Europäischen Union zuständig. Etwa drei Fünftel ihres knapp 50 Personen umfassenden Teams sitzen in Weinheim, zwei Fünftel in Plymouth.
Auf Konzernebene steht Ruth Bieringer an der Spitze der Freudenberg-Technologieplattform Polymere. Diese Aufgabe hatte sie bereits während ihrer Zeit bei Freudenberg Technology Innovation (FTI) übernommen. Bei FTI, der zentralen Forschung und Entwicklung der Freudenberg-Gruppe, war sie 2003 zunächst als Projektleiterin eingestiegen und hat anschließend mehrere Abteilungen geleitet.